Linie 108

Der Busfahrer, ein dicker Mann mit einem Bauch wie ein Medizinball, sah müde aus. Um genau zu sein: matt und verärgert. Es war wohl seine letzte Stunde am Ende der Frühschicht, und alles an ihm wirkte wie ausgewrungen. Auf seinem Kopf thronte eine Weihnachtsmütze – rot mit einem weißen Bommel, der leicht zur Seite hing – ein ironischer Kontrast zu seinem erschöpften Gesicht. Seine wulstigen Hände hätten mit einer einzigen Bewegung für Ruhe sorgen können. Doch stattdessen hob er die Arme. Langsam. Fast zögerlich. Als ob er noch nicht ganz begriffen hätte, was gerade vor seinen Augen geschah. Als ob Marys Worte noch immer wie ein Groschen in ihn hineinfielen, aber in Zeitlupe.

Er wirkte nicht mehr so, als wollte er sich durch die Fahrgäste zwängen. Vielmehr schien er lediglich einen einzigen Wimpernschlag davon entfernt zu klatschen. Eine stehende Ovation im stickigen Inneren der Buslinie 108.

Die Schüler, die täglich mit mir im Bus hockten, hatten die Frau »Crazy Mary« getauft. Der Spitzname passte irgendwie, denn sie sah aus, als wäre sie aus einer anderen Zeit gefallen. Wie jemand, die nicht wusste, dass der Zug des Lebens schon längst abgefahren war und sie allein auf dem Gleis zurückgelassen hatte.

Sie war groß und hager. Oder vielleicht wirkte sie nur groß, weil sie so hager war, zusammengesetzt aus Schatten und Knochen. Und stets in Schwarz gehüllt. Doch hin und wieder brach die Dunkelheit in ihr auf, als würde die Nacht eine kurze Verschnaufpause einlegen. Einmal war es ein lila Schal, so grell, dass er den grauen Morgen anzuschreien schien. Ein anderes Mal ein gelbes Halstuch, als wollte sie die Sonne selbst herausfordern. Aber meistens Schwarz. Tiefes, endloses Schwarz.

Vielleicht hätten die Schüler sie nicht »crazy« genannt, hätte sie nur etwas mehr darauf geachtet, ihr Haar zu bändigen. Doch das lag zerzaust auf ihrem Kopf, ein wildes Vogelnest, das an allen Enden in die falsche Richtung stand. Oder war es Absicht? Vielleicht trug sie dieses Chaos bewusst zur Schau. Wer konnte das schon wissen?

Ich saß immer abseits. Warf Crazy Mary einen flüchtigen Blick zu, dann schnell wieder weg. Ich ignorierte sie, so gut es ging – bis das eben nicht mehr möglich war. Denn sie hatte diesen hungrigen Blick. Nimmer satt. Immer leer. Vielleicht ist »gierig« ein zu starkes Wort, um sie zu beschreiben. Aber womöglich traf es den Kern doch ziemlich genau.

Sie las keine Bücher und starrte auch nicht in die Zeitung. Nein, sie verschlang die Welt mit ihren Augen. Die Straßen, die Passanten, die wechselnden Jahreszeiten – alles wurde aufgesogen. Und dann war sie immer noch nicht voll. Nie genug. Genau, es war nie genug. Sie inhalierte Sekunden, als stapelte sie dabei all die bunten Eindrücke. Vielleicht war den Schülern auch dieser wirrhungrige Blick aufgefallen. Dieses Unersättliche in einem hügligen Gesicht voll trauriger Täler.

Der Winter kam, und mit ihm wieder Mary. In Schwarz gehüllt und mit einem schwarzen Schal um den Hals, ihre Schultern gebeugt, das Gesicht noch fahler als sonst. Wer hätte gedacht, dass gerade sie den Fahrgästen das beste Weihnachtsgeschenk bereiten würde?

Es war Heiligabend, und ich verließ das Kontor zur Mittagszeit. Dann trat Mary in den Bus, und heute war es schlimmer als sonst. Sie saß dort wie verloren, und in ihren Augen war ohne Funken mehr, nichts von dem üblichen, fiebrigen Licht. Stattdessen war da etwas anderes, etwas Hartes und Bitteres – Verärgerung, die sich in die scharfen Linien ihrer eingefallenen Wangenknochen festgekrallt hatte. Ein junges Pärchen saß ihr gegenüber, kaum zwanzig, beide tief in ihre Telefone versumpft, scrollend und tippend, als hinge ihr Leben davon ab.

Und dann – dann geschah es. Crazy Marys Geduld riss, wie eine straff gespannte Schnur, die plötzlich platzt. Sie sprang auf, und auf ihrer bleichen Haut flammte ein Hauch von Rot, eine Spur von Zorn, den man bei ihr nie vermutet hätte.

Und sie schrie. Sie schrie so laut, dass der Bus zum Stillstand kam. Kein Heben der Stimme, keine laute Bitte. Weit gefehlt. Es war ein Urlaut voller Verzweiflung. Und Sitze bebten.

»Küsst euch! Streitet euch! Streichelt euch! Aber um Himmels willen – schaut euch in die Augen!«

Mary hatte so laut gekreischt, dass man nur Fetzen aufschnappte, die man nur mühsam zusammensetzen musste. Und doch verstand jeder genau, was sie meinte.

Das Pärchen erstarrte. Die Telefone lagen wie tote Vögel in ihren Händen. Zwischen das anfängliche Befremden schob sich eine Schicht aus Scham. Ihre Augen weiteten sich, Münder öffneten sich lautlos – Entsetzen, Überraschung, als hätten sie Backpfeifen links und rechts kassiert. Der Bus verstummte, eine schwere, drückende Stille senkte sich über die Fahrgäste, und alle schauten. Der Fahrer, dick und massig, stellte sich unnachgiebigen in den Gang.

»Lassen Sie die beiden in Ruhe«, grollte er.

Mary wandte sich um, ihre Augen glühend wie Kohle. »Das werde ich nicht. Niemals.« Sie drehte sich wieder zu dem Pärchen, und nun lag in ihrer Stimme ein Zittern – halb Gebet, halb Fluch. »Ihr wisst nicht, wie kurz die Zeit ist.« Mary trat ein Erdbeben los. »Ihr wisst es nicht«, fuhr sie fort, und ihre Stimme brach fast. »Aber ich weiß es. Und ich wünschte, jemand hätte es mir damals gesagt.«

»Lassen Sie sie in Frieden«, wiederholte der Busfahrer, und sein blaues Diensthemd spannte sich um den Brustkorb.

Crazy Mary dreht sich um. Und ihr sonst so todbleiches Gesicht glühte mit einem heiligen Zorn.

»Mein Mann…« Ihre Stimme stolperte, doch sie zwang sich weiterzusprechen. »Mein Mann hat sich das Leben genommen. Und ich schweige nicht mehr.« Eine Stille senkte sich auf die Gäste, so schwer, dass jeder Atemzug wie ein Vergehen schien. »Und ich trauere noch immer.« Jetzt verstanden wir. Das Schwarz, das undurchdringliche Schwarz, das sie täglich trug. »Ich verschwende keinen Moment mehr. Nicht einen einzigen. Und ich will, dass ihr das auch nicht tut.«

Sie wandte sich wieder an das Pärchen, ihre brüchige Stimme einen Schritt vorm Überschlagen. »Ihr alle… Ihr verschwendet eure Zeit, indem ihr auf diese verfluchten Telefone schaut.«

Das Pärchen versteckte seine Telefone, als könnten sie sich dadurch unsichtbar machen.

»Ich habe meine Zeit vergeudet«, schrie sie peitschend. »Ich mache mir jeden Tag Vorwürfe. Für all die verschwendeten Stunden. Die Zeit, die ich nicht genutzt habe.« Ihre Worte zersplitterte in tausend Scherben, die tief schnitten. Sie stand da, zitternd und voller Schmerz, doch zugleich erhoben, fast wie eine Heilige, gezeichnet von einem Leid. Crazy Mary in Schwarz – als hätte sie uns alle schon immer warnen wollen.

»Niemand konnte ihn retten«, fuhr sie fort, ihre Stimme nur noch ein heiseres Flüstern, das durch den Bus kroch. »Aber wie oft wünschte ich mir, dass ich nicht auf den beknackten Fernseher gestarrt hätte. Dass ich ihm stattdessen in die Augen geblickt hätte. Gelacht, gestritten, geliebt. Aber jetzt…« Ihre Stimme stürzte. »Jetzt ist es zu spät.«

Ein Riss zog sich durch den Bus. Mitten durch mich hindurch.

Der Busfahrer hob seinen Arm. Dann den anderen. Zögerlich. Und als wäre die Situation nicht schon absurd genug, rückte der massige Busfahrer seine Weihnachtsmütze zurecht, deren Bommel hin und her wippte, und begann zu klatschen. Ein tief donnernder Applaus, der durch den Bus rollte, und einer nach dem anderen stimmte ein. Crazy Mary hatte gesprochen und uns allen ihr kostbarstes Geschenk gemacht: Zeit. Ich selbst klatschte nicht. Vielleicht war ich zu überwältigt. Oder vielleicht, wie so oft, einfach zu feige. Aber hier und jetzt, in dieser Geschichte, finde ich meinen Mut. Möge jeder, der dies liest, mich klatschen hören, während Crazy Mary aus dem Bus der Linie 108 steigt. Sie wirft den Blick über ihre Schulter, ihre Augen ein Schlachtfeld, ihre Lippen geöffnet, darauf zittert ein stummer Appell.

© 2024 Günther Bially. Alle Rechte vorbehalten. Diese Kurzgeschichte darf ohne meine ausdrückliche schriftliche Zustimmung nicht kopiert, verändert oder weiterverbreitet werden.

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