Das spirituelle Leben hat philosophisch wenig mit Göttern und Geistern zu tun, sondern vielmehr mit dem großen Anfang, dem schrecklichen Ende und den vielen Verkettungen dazwischen. Und es ist in dieser Verästelung von kausalen oder un-kausalen Ketten, wo ich auf Kafka treffe.
Franz Kafka war ein Versicherungsbeamter, genau wie ich. In den letzten Jahren habe ich eine Theorie über sein Innenleben entwickelt, die sicherlich ebenso haltlos ist wie so manche Dissertation, wenn wir ihn fragen könnten.
Wer, wie ich, so viele Jahrzehnte mit Kleingedrucktem zu tun hatte, entwickelt ein Feingefühl für die Verworrenheit: komplexe Sätze, komplizierte Klauseln, Formulierungen, die im Schadenfall nur von einem Richter entschieden werden können. Vielleicht hat Franz aus diesem Wirrwarr des Versicherungsdeutschs seine Inspiration gezogen.
Seine Werke schockieren, beängstigen und oft fragt man sich beim Zuklappen des Buches, was man da gerade gelesen hat. Und dennoch: Sein Erfolg ist ungebrochen, trotz seiner bizarren Texte, in denen er sich in einen Käfer verwandelt, vor einem Schloss ohne Einlass steht oder ohne Gerichtsbeschluss verurteilt wird. Kafkaesk. Es gab keinen Begriff für diese bizarren Situationen, die er beschrieben hatte, und doch haben sich Leser darin wiedergefunden: „Genau so ist es, nur konnte ich es nicht in Worte fassen.“ Und wir haben seinen Namen dafür verwendet, so wie man einen Kometen nach dem Entdecker benennt.
Aber was hat er in Worte gefasst? Was ist dieses enigmatische Kafkaeske? Meine Theorie ist, dass er das Gegenteil von dem beschrieben hat, was als Lösungen überall angeboten wird: Klarheit, Einfachheit, fünf Schritte zum Glück. Seine Texte gehen einen anderen Weg, nämlich dass es im eigenen Leben etwas so Kleingedrucktes gibt, dass die Kausalkette zwischen Anfang und Ende sich so sehr verästelt, dass sie nicht mehr nachvollziehbar und schon gar nicht kontrollierbar ist.
Deshalb sind seine Texte spirituell, nicht weil sie einen Gott oder Geist enthalten, sondern weil sie das Labyrinth der verworrenen Kausalketten betreten, die den großen Anfang und das schreckliche Ende umgeben. Abweg. Irrwege. Und der Mensch wandelt hilflos umher. Kafka hat es beschrieben. Und wir haben seine Beschreibung nach ihm benannt: kafkaesk.
Hattest du auch eine kafkaeske Begegnung? Teile sie gerne in den Kommentaren.