Jakob, der Einäugige, war der Einzige in seiner Gemeinschaft, der lesen und schreiben konnte. Aus diesem Grund folgte ihm eine Schar von Männern bis in die Trümmerwüste der Innenstadt, hinein in eines der wenigen halb stehenden Gebäude. Er und seine Leute waren die fernen Nachkommen derjenigen, die die Urkatastrophe überlebt hatten.
Das waren die ersten zarten Fäden meiner apokalyptischen Dystopie, während ich als Azubi lustlos zwischen den Aktenregalen hin und her schürfte.
Der junge Picasso soll im Matheunterricht die Zahlen zu fantastischen Figuren umgezeichnet haben. Etwas Ähnliches tat auch ich, wenn ich während meiner Ausbildung die Akteneinlagerung in den Kellerräumen machen musste. Dort spielte ich Kopfkino mit der Frage „Was wäre, wenn…?“ und begegnete dem einäugigen Jakob mit der Binde über dem Gesicht.
Der Aktenraum wurde zum Schauplatz einer weltweiten Apokalypse und eine Nachwelt, die hundert Jahre später existierte. Durch die Schuttmassen hindurch bahnte sich die Truppe ihren Weg in die Katakomben, gefüllt mit vergilbten Aktenordnern – Relikten einer vergangenen Welt.
Pietro, den sie die Bulldogge nannten, schnüffelte neugierig an den grünen Formularen mit weißen Feldern, während Jakob die enigmatischen Zahlen studierte: 0005 – BMW, 0039 – Opel, 0588 – Audi, 112 – PKW, 003 – Motorrad. Er verstand nichts von dem, was er da las. Sie waren auf die Anträge der KFZ-Abteilung gestoßen, die er wie wertloses Zeug zu Boden fallen ließ.
Erik, der Buckelige, entdeckte einen Ordner mit Farbfotos darin. „Mehr Licht!“, befahl Jakob. Er ahnte nicht, dass er auf das Schadenarchiv eines Versicherers gestoßen war. Langsam sank er zu Boden und studierte Seite für Seite.
Berichte von Bränden, zerschmetterten Autos und schreckliche Texte über Unfälle. Noch mehr Bilder: Ein ausgebranntes Zimmer, ein Baum quer über einem halb abgedeckten Dach. Und immer wieder emotionale Berichte.
Er befahl seinen Männern draußen ein Camp zu errichten und das grüne Papier zu verbrennen. Aus den Schadenakten wollte er die Vergangenheit rekonstruieren, die Welt von einst…
Ich war fertig mit der Ablage, und mein Kopfkinobesuch endete. Im Fahrstuhl nach oben fragte ich mich, welche Welt der Einäugige aus deinen und meinen Notizen rekonstruieren würde, falls er sie unterm Schutt fände.
Was meinst du?