Horstmanns Kurzgrammatik und die Struktur der Welt

An Gaius, unseren Lateinprofessor, erinnere ich mich kaum, aber Horstmann, der Altgrieche, hat sich so sehr in meinen Cortex gebrannt, dass es noch immer nach verbrannter Brezel riecht.

Horstmann trug eine Brille mit aschenbecherartigen Gläsern. Sein Gang unnachahmlich brettartig. Du begegnetest ihm nicht, nein, er krachte in dich wie ein Zug.

Ich bestand die schriftliche Prüfung als Zweitbester mit einer Vier. Noch nie hatte ich mich so über ein „Ausreichend“ gefreut. Daniel tanzte fast vor Freude über seine Vier minus – knapp bestanden. Nur wenige hatten zuvor eine Drei geschafft. Es wurde gemunkelt, dass eine Ultraintelligente sogar eine Zwei erreicht hatte, aber das war bloß Hörensagen.

Morgens betrat Horstmann das Klassenzimmer, das wir nur als Kellerloch bezeichneten, aufgrund seiner Lage in der untersten Ecke eines Betonbaus. Er stützte sich auf den Tisch, Ellenbogen durchgestreckt, Körper gebeugt, Kopf gesenkt. Blickkontakt schien er zu verabscheuen, als könnte er nichts und niemanden leiden. Die Gefühle waren gegenseitig, sodass einige sogar den Umweg über eine Privatschule zum Graecum machten.

Das Schlimmste war seine selbstverfasste Kurzgrammatik: ein undurchdringliches Zeichensystem aus griechischen Wortstämmen, Pfeilen und Trennlinien – eine Art Formelsammlung. Naiv fragte ich, wann wir Vokabeln lernen würden, woraufhin er mich auslachte.

In Horstmanns Kellerloch waren Wörter beliebig austauschbar. Ob „Tisch“ oder „Teufel“ spielte keine Rolle. Nur die Struktur zählte. An ihr hingen die Verben, Partizipien und Substantive wie an einer Wäscheleine. So erlernt man doch keine Sprache, oder?

Horstmann offenbarte uns die verborgenen Strukturen der Sprache, die sich auch auf andere Sprachen übertragen ließen. Sogar auf das Leben selbst.

Statt Lob gab es bei ihm strenge Schikane. Und freitags erhielten wir eine Nachhilfestunde „Deutsche Grammatik für Dummies“. Wie dumme Hühner ließen sich intelligente Studenten von ihm herunterputzen.

Altgriechisch war unser Bootcamp. Keine Prüfung war härter erkämpft als das Greacum. Das Examen in Philosophie war im Vergleich dazu ein Klacks.

Es hieß, dass Horstmanns freundlicher Zwillingsbruder die mündliche Prüfung leitete und den Studenten regelrecht Elfmeter zuspielte, die sie nur noch verwandeln mussten. So hilfsbereit kannten wir ihn nicht. Am Ende stand die Note 3. Die beste Note meines Lebens, die jede 1 in den Schatten stellte.

 Wie gesagt, Gaius, den Lateinlehrer, habe ich fast vergessen, außer dass er sehr freundlich war. Aber Horstmanns Kurzgrammatik riecht immer noch nach verkohlten Erinnerungen. Sie hat mir jedoch die Tür zu den darunter liegenden Strukturen geöffnet, mit ihrer kalten, logischen Eleganz. Und ich habe die Vermutung, dass die Strukturen der Sprache auch die des Lebens sind.

Leave a Comment