Hinterm Haus

Michael hat längst keine Haare mehr. Ich zerrte ihn ins Gebüsch, weil da in uns beiden noch immer diese Elfjährigen hausen.

Wenn jetzt einer aus dem Fenster schaut? Der wird sich wundern. Zwei Männer dort zwischen Büschen und Bäumen. Und auch nicht mehr ganz jung.

Michael und ich sind im selben Haus groß geworden. Dreißig Jahre Funkstille, dann ein zufälliges Wiedersehen. Dass wir nun die Straße unserer Kindheit beschreiten, ist so überraschend wie unwahrscheinlich. Zwei sentimentale Pilger auf einer Zeitreise.

Tausend Ecken. Tausend Erinnerungen.

Die neuen Bewohner gucken skeptisch. Zwei große Kerle. Was wollen die hier?

Die Namensschilder von Skibbe und Winter sind immer noch dort. Ein halbes Jahrhundert später. Und Michael erinnert mich, dass er und Mario damals das Baumhaus gebaut haben. Hinterm Haus. Da stand es mir wieder vor Augen. Groß, wenngleich verschwommen.

„Komm“, sage ich.

Ich schleife Michael hinters Haus. Ja, hinterm Haus. So nannten wir den Streifen zwischen Wand und Schulzaun, überwachsen wie ein Dschungel, unser kleines Paradies. Perfekt für kleine Abenteurer.

Die Gebüsche sind nun runtergeschnitten. Aber die Bäume sind gen Himmel gewachsen.

Und da ist er – der Platz, wo Thomas und ich unser Baumhaus bauen wollten. Aber nie geschafft haben. Wen wundert’s? Michael und Mario waren damals sechs Jahre älter.

Meine Güte, es wirkte so klein und kahl. Im Vergleich zu damals, als es ein Universum in meinem Multiversum war.

Und trotzdem. Dieser unscheinbare Streifen voller Gestrüpp. Versteckt hinterm Haus. Ist noch immer geschichtenbehangen.

Stephen King kehrte in seinen Romanen immer wieder zu dem grenzenlosen Wald seiner Kindheit zurück. Die unerschöpfliche Geburtsstätte seiner Romane. Weil Kinder nur die Unendlichkeit kennen.

Ich wollte mal ein Buch schreiben, „Als wir noch jung waren“. Aber jetzt, wo Michael mich aus dem Gebüsch zieht, weiß ich, wie es heißen soll: Hinterm Haus. Wo noch immer ein Universum von Geschichten schlummert und wartet, geborgen zu werden.

Es schmerzte mich ein wenig, als Michael vorausstapfte, ohne zurückzublicken. Zwei Männer, keine Kinder mehr. Aber eines Tages komme ich wieder hierher. Und sitze mit Stift und Zettel. Hinterm Haus.

Wo ist Dein „Hinterm Haus“?

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